„Bist du eine Frau?“ Huch, das war direkt. „Ähm, ja, das bin ich“. „Meine Mama hat bald wieder Haare“, entgegnet meine Tochter lässig auf dem Klettergerüst sitzend. Eigentlich wollte ich ihr nur einen Sonnenhut bringen. Aber den sollte ich wohl lieber selbst aufsetzen, denke ich.
Der kleine Junge, der wissen wollte, welchem Geschlecht ich angehöre, ist längst wieder verschwunden. Ich setze meiner Tochter den Hut auf und frage sie, ob sie mit mir ins Wasser kommt. Das Schwimmbad ist übervoll. Es hat 34 Grad und das ist auch der Grund, weshalb ich keine Kopfbedeckung trage. Und das, ihr Lieben, irritiert nicht nur den kleinen Jungen von gerade eben. Immer wieder bemerke ich, dass die Blicke der Badegäste auf mir hängen bleiben. Für eine Millisekunde.
Doch heute habe ich einen guten Tag. Sollen sie doch mutmaßen, weshalb ich eine Glatze trage. Ich setze mir die Rayban ins Gesicht und halte den Blicken stand. Doch mein Äußeres gibt eigentlich nicht viel Spielraum für Mutmaßungen. Nicht mehr. Die Chemotherapie habe ich vor wenigen Tagen hinter mich gebracht. Nun zieren meinen fahlen und vom Kortison aufgeblasenen Körper, schicke Strahlen-Markierungen. Die ganz unprätentiös mit Edding aufgemalten Fadenkreuze sind unter einem T-Shirt versteckt. Ich will meine Umwelt nicht mit aller Macht schockieren. Doch auch ohne diesen Hinweis, kann jeder halbwegs aufmerksame Mensch das Rätsel um mein Äußeres lösen: Glatze, keine Augenbrauen, aufgequollenes Gesicht. Die Frau hat Krebs.
Bist du eine Frau? Hallt es in mir nach. Bin ich das? Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nicht, wer oder was ich gerade bin. Doch in dieser Identitätskrise befinde ich mich schon seit einigen Monaten und kein kleiner Junge der Welt könnte mir Fragen stellen, die ich mir in den vergangenen Wochen nicht schon selbst hundert Mal gestellt habe. Keiner der Menschen in diesem Schwimmbad könnte mir Blicke zuwerfen, die ich mir nicht schon selbst im Spiegel zugeworfen habe. Also nehme ich mein Sunblocker-Spray, drücke auf den Sprühkopf und lasse den Creme-Nebel auf meine nackte Kopfhaut rieseln, als wäre es Haarspray. Ich sagte doch, heute ist ein guter Tag – hätte ich die Sonnenbrille dabei vorher abgesetzt, wäre er noch besser gewesen...
Doch es gab auch schlechte Tage. Unzählige. Der Tag, an dem ich mir eine Perücke aussuchte war verdammt schlecht. Der Tag, an dem ich mir die Haare auf 2mm abrasierte war verdammt schlecht. Der Tag, an dem die Stoppeln mir bei jeder Bewegung auf die Schultern rieselten, war verdammt schlecht. Der Tag, an dem meine Tochter sagte, ich sei nicht mehr hübsch ohne Haare, war niederschmetternd schlecht. Und der Tag, an dem mir einfach nur nach Verkriechen zumute war, weil ich mich selbst nicht mehr erkannte, Gott, war der schlecht.
Und heute? Knapp ein Jahr später, weiß ich ganz genau wer ich bin. Und sollte ich diesen Jungen noch mal treffen, dann werde ich ihm sagen, dass ich verdammt nochmal Superwoman bin. Und das ist genau das, was jeder von euch, der gerade eine schwere Zeit durchmacht, zu sich sagen sollte. Denn das, was ihr leistet, das soll euch erst mal jemand nachmachen. In diesem Sinne: hinfallen, Turban richten, weitergehen!
Und Haare? Habe ich heute wieder in Hülle und Fülle. Meine Nichte sagt zwar manchmal noch, ich sähe aus wie ein Papa, aber meine Kleine meinte gestern Abend zu mir, ich sei wunderschön. Und diesen Satz, den rahme ich mir in meinen Erinnerungen ein und hänge ihn über all die schlechten Bilder aus dem vergangenen Jahr. Frohes neues, ihr Lieben!
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